Montag, 9. Mai 2011

Rede anlässlich der jährlichen gemeinsamen Stadtratssitzung der Stadträte Görlitz und Zgorzelec am 06.05.2011 im Dom Kultury - EU-Richtlinien als Arbeitsmarktkriterium in Deutschland und Polen - Freizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt -

Rede anlässlich der jährlichen gemeinsamen Stadtratssitzung der Stadträte Görlitz und Zgorzelec am 06.05.2011 im Dom Kultury
Sehr geehrter Herr Paulik,
Sehr geehrter Herr Gronicz,
Sehr geehrte Damen und Herren Stadträte der Städte Zgorzelec und Görlitz,
ich freue mich sehr, heute in Zgorzelec zu den Stadträten anlässlich der jährlich gemeinsamen Stadtratssitzung reden zu dürfen. Ich darf Ihnen herzliche Grüße von der neuen Chefin der Agentur für Arbeit Bautzen, Frau Khabiri-Bohr ausrichten, die heute leider nicht zu Ihnen sprechen kann, da sie sehr kurzfristig erkrankt ist.
Ich bin in Görlitz aufgewachsen, hier zu Schule gegangen, habe meinen Zivildienst geleistet und damit fast 22 Jahre in Görlitz gelebt. Als Görlitzer bin ich aus eigenem Erleben sehr vertraut damit, was das Zusammenleben und Zusammenwachsen der Europastädte Görlitz und Zgorzelec betrifft. Umso mehr danke ich Ihnen für die Gelegenheit, im Stadtrat sprechen zu dürfen.
Herr Oberbürgermeister Paulik hat mich gebeten, heute zu den Chancen, zu möglichen Risiken, zu den bisherige Erfahrungen aus Sicht der deutschen Arbeitsverwaltung im Zusammenhang mit der Herstellung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für acht Mitgliedsstaaten der EU zu sprechen.
Lassen Sie mich zu Beginn kurz einige Fakten zur Agentur für Arbeit Bautzen nennen. Der Bezirk liegt im Dreiländereck im östlichsten Teil Deutschlands und grenzt damit an Polen und Tschechien. Der Agenturbezirk umfasst die beiden Landkreise Görlitz und Bautzen. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Agentur für Arbeit Bautzen betreuen Arbeitnehmer und Arbeitgeber an insgesamt 9 Standorten. Es handelt sich um einen typischen Flächenbezirk mit großer territorialer Ausdehnung und er ist in etwa doppelt so groß wie das Bundesland Saarland.
Aktuell waren im Agenturbezirk Bautzen im April insgesamt 35.351 Frauen und Männer arbeitslos registriert. Die Arbeitslosigkeit ist also um 6 Prozent im Vergleich zum März dieses Jahres gesunken. Im Vergleich zum April 2010 fällt auf, dass alle Altersgruppen vom Rückgang profitiert haben. Der Anteil der arbeitslosen Jugendlichen unter 20 Jahre ist dabei besonders stark gesunken und hat sich im Vergleich zum Vorjahr nahezu halbiert. Ihre Anzahl hat sich auf mittlerweile 250 arbeitslose Jugendliche reduziert. Man kann also sagen, dass sich der Arbeitsmarkt in der Lausitz durchaus in einer besseren Verfassung als im vergangenen Jahr befindet.
Warum erzähle ich Ihnen davon?
Nun, wenn wir heute über Chancen oder Risiken sprechen, die sich aus der Herstellung der vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit ergeben können, ist es wichtig zu erfahren, wie der regionale Arbeitsmarkt verfasst ist. Denn hier in unserer Region entsteht ja gerade ein neuer europäischer Arbeitsmarkt.
Wie Sie alle wissen, erhielten am 1. Mai 2011 die Staatsangehörigen der acht neuen EU-Mitgliedsstaaten Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakische Republik, Slowenien, Tschechische Republik sowie Ungarn die uneingeschränkte Arbeitnehmerfreizügigkeit im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland.
Dies bedeutet, dass sich die Bürger der genannten Länder ohne Einschränkungen auf die Grundfreiheit von Unionsbürgern berufen können, in Deutschland eine Beschäftigung aufzunehmen. Infolgedessen entfällt die Verpflichtung, vor Aufnahme der Beschäftigung eine Arbeitsgenehmigung einzuholen. Die Bürger dürfen nunmehr arbeiten wann und wo immer  sie wollen. Das ist auch gut so, denn es stärkt die Rechte der Menschen aus unseren Nachbarstaaten, die zu uns kommen, um zu arbeiten.
Meine Damen, meine Herren
es gilt nun die Frage zu beantworten, welche Chancen sich mit der hergestellten Arbeitnehmerfreizügigkeit ergeben. Zum Einen können Arbeitgeber seit letztem Sonntag Arbeitnehmer, hier insbesondere die Fachkräfte, sofort und unbürokratisch einstellen, da die sogenannte  Arbeitserlaubnis  nicht mehr beantragt werden muss und eine Meldebescheinigung auch nicht mehr vorzulegen ist. Wenn ich hier von Fachkräften spreche, dann zeigt sich darin eine mögliche Chance für deutsche Unternehmen, mit neuen Arbeitskräften auch neue Kompetenzen – sprachlich und kulturell -  zu erlangen, die möglicherweise neue Kundenkreise erschließbar erscheinen lassen. Nur darf man sich hierbei keine zu großen Hoffnungen machen, dass sich hiermit die Fachkräfteproblematik, also die Deckung unseres eigenen Fachkräftebedarfes, final lösen ließe. Denn Fachkräfte in unsere Region zu locken oder sie hier zu halten, bedeutet im Zweifel auch, attraktivere Bedingungen zu bieten als andere – nicht nur für unsere europäischen Nachbarn sondern auch für Einheimische.
Eine andere Chance dürfte sich für die beiden Städte und das Umland an der Neiße ergeben: Ich erwarte, dass die Zahl der Tagespendler über die Grenze zunehmen wird – durchaus in beide Richtungen. Denn wenn auf beiden Seiten freie Stellen existieren, attraktive Löhne geboten werden, wird die Zahl der Pendler steigen.
Allerdings gab und gibt es rund um die Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes verständlicherweise Sorgen und Ängste. Wie wirkt sich die Marktöffnung künftig auf die Lohnentwicklung, beispielsweise im Helferbereich, aus? Mit Blick auf unsere polnische Nachbarn wird man sich sicherlich auch dort die Frage gestellt haben: verlieren wir unsere eigenen Fachkräfte nach Deutschland? Denn nicht nur in Deutschland muss man sich mit der Thematik der sogenannten demografischen Falle beschäftigten, auch in Polen oder in Tschechien wird in naher Zukunft eine schrumpfende Erwerbsbevölkerung den Arbeitsmarkt herausfordern.
Aktuelle wissenschaftliche, belastbare Aussagen zu den Auswirkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit seit 01.05.2011 gibt es (noch) nicht. Jedoch lohnt sich der Blick auf andere europäische Länder, die ihre Arbeitsmärkte wesentliche früher, nämlich bereits 2004 für Arbeitskräfte aus dem Ausland öffneten. Ganz allgemein kann an sagen: es wird keinen Ansturm oder Massenwanderungen nach Deutschland geben. Denn viele der jungen, mobilen Arbeitskräfte mit polnischer Herkunft haben sich bereits in andere Länder, beispielsweise nach England oder Frankreich orientiert. Oder nehmen wird die Gesundheitsbranche: in vielen deutschen Krankhäusern und Kliniken arbeiten seit Jahren hochqualifizierte polnische Ärzte. Diese Beispiele könnte man beliebig fortführen.
Aber wie sieht die Situation in Sachsen aus? Wir rechnen damit, dass jährlich rund 1.400 Zuwanderer aus allen Nachbarländern zu uns nach Sachsen kommen. Das sind weitaus weniger als wir aufgrund des demographisch bedingten Fachkräftebedarfs in Sachsen benötigen. Denn unsere Nachbarländer Polen und Tschechien haben im Vergleich zu Deutschland einen ähnlichen Arbeitsmarkt. Steigende Fachkräftebedarfe und die Auswirkungen einer älter werdenden Bevölkerung sind auch dort zu bewältigen. Insofern werden diese Länder sicherlich versuchen, ihre Fachkräfte im Land zu halten. Ich denke, damit wird klar, dass lediglich ein kleiner Teil von den genannten 1.400 Zuwanderern auf den östlichen Teil des Bezirks der Agentur für Arbeit Bautzen entfallen wird.
Im Vergleich zur Fachkräftesituation gestaltet sich die Lage bei den Jobs für Geringqualifizierte im Niedriglohnsektor etwas anders. Bei diesen Arbeitsplätzen sind oftmals keine erweiterten Kenntnisse der deutschen Sprache notwendig. Auch würde es sich für diesen Personenkreis finanziell oft nicht lohnen,  weiter  in die alten Bundesländer zu fahren, um nur wenige Cents bei den Aushilfsjobs mehr zu verdienen. Das bedeutet, dass es in grenznahen Regionen  wie dem Landkreis Görlitz im Niedriglohnsektor zu einer verstärkten Konkurrenz der Bewerber um diese Arbeitsstellen kommen kann. Freie Stellen der Betriebe in den Grenzregionen können und werden also durchaus durch Bürger aus den Nachbarländern besetzt werden. Hier müssen sich die Arbeitnehmer auf steigenden Wettbewerb einstellen. Jedoch spielen hier Mobilität, Fachkenntnis und vor allem die deutsche Sprache eine wichtige Rolle bei der Stellenbesetzung.
Gestatten Sie mir zum Schluss noch einigen Worte zu den konkreten praktischen Aktivitäten der Agentur für Arbeit Bautzen beim Thema Arbeitnehmerfreizügigkeit. Wir sind aktiv im Netzwerk „EURES-Tri- Regio“, einer grenzüberschreitenden Partnerschaft der Arbeitsverwaltungen, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände aus Deutschland, Polen und Tschechien. Ihr Ziel ist die Entwicklung eines gemeinsamen Arbeitsmarktes unter Einhaltung der bestehenden Arbeits- und Sozialstandards des jeweiligen Landes. Das EUERES-Netzwerk fördert die europaweite Mobilität von Arbeitnehmern. In der Agentur für Arbeit Bautzen stehen für die Unterstützung der grenzüberschreitenden Arbeitsvermittlung in der Grenzregion zu Niederschlesien (Polen) zwei speziell ausgebildete EURES – Beraterinnen zur Verfügung. Das sind eigentlich zu wenig, wenn ich mich an die letzten Monate mit vielen Fragen von Bürgern, Unternehmen und Vertretern der Presse erinnere. Gemeinsam mit unseren EURES-Partnern aus Polen sind eine Vielzahl von Messen und Börsen vorbereitet und durchgeführt worden, die teilweise auf großes mediales Interesse stießen, beispielsweise unsere internationale Job-Speed-Dating-Messe in Zittau im April. Ich möchte mich daher an dieser Stelle für die exzellente Zusammenarbeit und Unterstützung bei meiner Kollegin, Frau Plutecka, von der polnischen Arbeitsverwaltung ausdrücklich bedanken.
Zurzeit registrieren wir in der Geschäftsstelle Görlitz der Agentur für Arbeit Bautzen wöchentlich 20 bis 30 Bürger aus Polen, die sich für den deutschen Arbeitsmarkt interessieren und eine Beratung wünschen. Wir haben daher wöchentliche Beratungstage für Arbeitssuchende und Arbeitgeber aus Deutschland und Polen  in Görlitz eingerichtet. Hier sind auf der Bewerberseite eine verstärkte Nachfrage und ein großer Informationsbedarf über den deutschen Arbeitsmarkt zu verzeichnen. Zusätzlich bieten wir monatliche Sprechtage wechselnd in den Arbeitsämtern Zgorzelec, Boleslawiec und Jelenia Gora an.
Sehr geehrte Damen und Herren,
mit der Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes bieten sich viele Chancen. Lassen Sie uns diese gemeinsam nutzen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

© Agentur für Arbeit Bautzen | Thomas Berndt, Geschäftsführer Operativ | 06.05.2011 | Es gilt das gesprochene Wort! | Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Autors.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen